Virtuose Choreografie der Strichcodes
von Jan Sting
Aufgrund ihrer starken Pigmentierung ist Tusche eine kräftige Farbe. Im Verbund mit schrundigem, wasserbeständigem und reißfestem Steinpapier nimmt sie ihren eigenen Lauf. Hier setzt Doris Scheuermann mit ihrem Zeichenprozess ein, in dem sie auf wunderbare Weise ihre eigene Bildsprache entwickelt.
Zu sehen sind ihre spannungsvollen Tuschezeichnungen derzeit in den neuen Ausstellungsräumen „Aachener Eins Eins 4“ – gemeint ist die Aachener Straße 114 gegenüber dem Aachener Weiher. Dort kuratiert das Künstlerduo „deep blue“ mit Jeannette de Payrebrune und Jovita Majewski. Die Räume stellt Thomas Müller in seiner PR-Agentur zur Verfügung. Zwischen Schreibtischen und Konferenzecke haben die Arbeiten in den hohen Räumen Platz, ihre Wirkung zu entfalten, so dass sie nach Ansicht Müllers auch für das Team eine „harmonische Wirkung“ haben. Kennengelernt haben sich die Kuratorinnen und Müller durch die Kulturpatenschaft für die Wachsfabrik.
Doris Scheuermann choreografiert das Zerfließen, bremst und leitet die Tusche um. Starke Kontraste zwischen hauchfeinen Verästelungen und kräftigen Schraffuren bringen eine eigene Melodie in die Bilder. „Die Hand führt, bevor sich der Kopf einschalten kann“, erklärt die Künstlerin. Wie in einer Art Strichcode reihen sich algenartige Linien aus Tusche aneinander. Diese wirft winzige Luftbläschen. Alles bildet eine gleichmäßige, wie gewachsene Struktur auf dem Papier. Fast kaum wahrnehmbar fügt Doris Scheuermann ausgeschnittene Tuschelinien, sogenannte „Cut outs“, ein. Es wird plastisch – wie bei einem Schachtelhalm.
Sogwirkung entwickeln ihre Zeichnungen wie zum Beispiel in „Fluidline“. Durch Schattierung und Drehungen der Tuschestriche entsteht räumliche Struktur, so dass es mitunter an die Skulpturen des Zero-Künstlers Oskar Holweck erinnert. Der konnte in seinen kreativen Zerreißproben ein Telefonbuch durch Falten, Reißen Zerknüllen der Seiten in ein facettenreiches Objekt verwandeln.
Doris Scheuermann stellt ebenso mit wenigen Mitteln viel Räumliches dar. In ihrer vor zwei Jahren entstandenen Serie „outline“ war es der Zufall, der sie auf eine künstlerische Idee brachte. Eine versehentlich zerknüllte Zeitungsseite strich Scheuermann wieder aus und war so fasziniert von der Struktur, dass sie sie in insgesamt 45 Arbeiten umsetzte, die wie Variationen des Alltagsvariationen anmuten.
Zu ihren Werkzeugen und Materialien gehören neben der Tusche Bleistift, Grafit, Skalpell und neuerdings auch Kugelschreiber. Scheuermann experimentiert – aber egal ob Holzschnitt oder Zeichnung bleibt sie unverkennbar in ihrer Handschrift, die spontan und zufällig wirken mag, aber von äußerster Präzision geleitet ist.
Bis 26. April, Mo bis Fr 9 – 17 Uhr, Aachener Str. 114. Preise 500 bis 2100 Euro.
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